Arzthaftung - 21. Juni 2024

Arzthaftungssachen vor dem Oberlandesgericht Hamm

OLG Hamm, Pressemitteilung vom 19.06.2024

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Joachim Lüblinghoff stellte am 19.06.2024 im Rahmen des Jahresmediengesprächs die Entwicklung der Arzthaftungssachen am Oberlandesgericht Hamm dar.

Bereits in den 1970er Jahren wurde aarm Oberlandesgericht Hamm eine Spezialisierung für Verfahren auf dem Gebiet des Arzthaftungsrechts eingeführt, um den hiermit befassten Richterinnen und Richtern zu ermöglichen, besonders Erfahrungswissen zu sammeln und aufzubauen. Heute sind mit dem 3. und dem 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts zwei Senate mit dieser Spezialmaterie befasst. Die meisten Arzthaftungsprozesse in Deutschland werden heute in zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht Hamm verhandelt. Im Jahr 2023 waren es fast 240 Fälle.

Die Spezialisierung – inzwischen an allen Gerichten auch gesetzlich verpflichtend – hat sich bewährt, da die Einarbeitung in die Materie für Richterinnen und Richter geraume Zeit in Anspruch nimmt. Neben dem herausfordernden Umgang mit meist komplexen medizinischen Sachverhalten, deren Aufarbeitung durch Sachverständige von den Richterinnen und Richtern nachvollzogen und verstanden werden muss, weist das Gebiet auch einige rechtliche Besonderheiten auf. So muss das Gericht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in besonderer Weise dafür sorgen, dass das Wissensdefizit zwischen Patientinnen und Patienten auf der einen und Ärztinnen und Ärzten auf der anderen Seite durch geeignete Maßnahmen ausgeglichen wird, damit im Prozess „Waffengleichheit“ herrscht. Hier sind oftmals weitergehende Ermittlungen des Gerichts von Amts wegen erforderlich, die der deutsche Zivilprozess sonst so nicht vorsieht.

In den letzten Jahren gewinnt das Thema der Aufklärung über die die Risiken und Alternativen von operativen Eingriffen zunehmende Bedeutung. Gesetz und Rechtsprechung verfolgen hier das Bild eines mündigen Patienten, der eine informierte Entscheidung treffen kann. Als Beispiel können hierfür zwei Fälle der vergangenen Jahre dienen.

Aufklärung über Behandlungsalternativen

OLG Hamm, Urteil 26 U 36/23 vom 02.02.2024 (rkr)

In einem in diesem Jahr entschiedenen Fall ging es um die Anforderungen an die Aufklärung, wenn neben einer Operation auch eine konservative Behandlung in Betracht kommt.

Die damals 58-jährige Patientin aus Bochum ließ sich Anfang und Mitte 2016 aufgrund einer Veränderung der Bandscheiben (sog. Bandscheibendegeneration) zur Versteifung ihrer Wirbelsäule in dem beklagten Krankenhaus operieren. Aufgrund anhaltender Beschwerden verklagte die Patientin Arzt und Krankenhaus. Behandlungsfehler bei den Operationen wurden nicht erwiesen. Umgekehrt konnte das beklagte Krankenhaus aber auch eine ausreichende und damit wirksame Einwilligung der Patientin nicht nachweisen, weshalb das Oberlandesgericht ihr 50.000 Euro Schmerzensgeld zusprach und feststellte, dass sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen sind.

Das Gericht vermisste eine ausreichende Aufklärung über die hier gegebene Alternative einer konservativen Behandlung. Die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Patientin erfordert eine Aufklärung auch über Alternativen zu der geplanten Maßnahme, wenn diese zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können. Hier hätte eine konservative Behandlung durch Physiotherapie, Schmerzmedikation und Spritzentherapien zwar keine Aussicht auf Heilung, wohl aber auf eine länger, ggf. Jahre andauernde Beschwerdelinderung geboten. Den Beweis, dass die Patientin über diese Alternativen in der gebotenen ausführlichen Weise aufgeklärt war, hat das Krankenhaus aber nicht geführt. Das Gericht ist insbesondere davon ausgegangen, dass der Patientin die für eine informierte Abwägungsentscheidung notwendigen Argumente für die eine oder die andere Behandlungsmethode nicht bekannt waren.

Das Urteil ist rechtskräftig.

Aufklärung durch unerfahrenen Arzt trotz besonderer Risiken

OLG Hamm, Urteil 26 U 46/21 vom 20.12.2022 (rkr)

In einem Fall aus Dezember 2022 ging es um die Frage, welche Erfahrungen der aufklärende Arzt bei einer Operation mit besonderen Risiken haben muss.

Die damals 44-jährige Patientin aus Mülheim an der Ruhr litt seit ihrer Kindheit an einer Hüftdysplasie und daraus folgend an einer fortgeschrittenen Hüftgelenksarthrose. Sie ließ sich 2017 operieren und verklagte wegen anhaltender Beschwerden anschließend den Operateur und das Krankenhaus. Auch in diesem Fall konnte die Patientin einen Behandlungsfehler nicht beweisen. Da sich aber die Aufklärung als nicht ausreichend herausstellte, sprach ihr das Oberlandesgericht ein Schmerzensgeld von 20.000 Euro zu und stellte fest, dass Arzt und Krankenhaus für alle materiellen Schäden haften.

Den Grund für den Aufklärungsfehler sah das Gericht hier auch in der Person des Aufklärenden begründet. Wie im Krankenhausalltag durchaus üblich, wurde die Aufklärung nicht vom Operateur selbst, sondern von einem anderen dort tätigen Arzt vorgenommen. Dies ist grundsätzlich rechtlich in Ordnung. Aufgrund der Vorerkrankung der Patientin und des mit dem Eingriff verbundenen hohen Risikos musste die Aufklärung hier aber von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen werden, die aufgrund ihrer Erfahrungen – beispielsweise aufgrund selbst durchgeführter Operationen – die Risiken aus eigener Anschauung gut genug kennt und entsprechend vermitteln kann. Der für das Aufklärungsgespräch eingesetzte Assistenzarzt war indes noch nicht einmal drei Wochen in dem Krankenhaus beschäftigt und hatte keinerlei Erfahrungen mit Operationen auf diesem Fachgebiet.

Das Urteil ist rechtskräftig.

Quelle: Oberlandesgericht Hamm