EU-Digitalpolitik - 29. August 2024

Digital auf Europäisch

Europa hat gewählt – und das EU-Parlament hat Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin wiedergewählt. Was das für die Digitalpolitik in der EU bedeuten könnte, ist noch offen. Der Fokus muss nun auf der Umsetzung und nicht auf neuen Vorgaben liegen.

Spannend war es eigentlich nur in den Tagen zuvor. Knapp könnte es werden, womöglich sogar gar nicht reichen. Am Ende war die Mehrheit, die Ursula von der Leyen im EU-Parlament bei der Wiederwahl zur EU-Kommissionspräsidentin erzielte, doch recht komfortabel. Offiziell wurde ihre Nominierung durch die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs von 401 Abgeordneten bestätigt, 360 Stimmen waren notwendig. Ihr Wahlergebnis fiel damit besser aus als noch vor fünf Jahren, als die CDU-Politikerin nur knapp zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde.

Ein Symbol der Stetigkeit

Nach all den beunruhigenden Wahlnachrichten der vergangenen Monate wirken die Ergebnisse der ersten Sitzung des EU-Parlaments auf mich zunächst einmal erleichternd. Zuvor war bereits die maltesische Politikerin Roberta Metsola erneut zur Präsidentin des EU-Parlaments gewählt worden. Dass die Abgeordneten nun auch mehrheitlich Ursula von der Leyen für eine weitere Legislaturperiode im Amt bestätigten, ist mindestens ein Symbol der Stetigkeit in unruhigen Zeiten. Allerdings bleiben für die Christdemokratin und ihre noch zu besetzende Kommission viele politische Aufgaben zu erledigen. Die politischen Verhältnisse in Europa haben es nicht leichter gemacht.
Als Genossenschaft des steuerberatenden Berufsstands blicken wir vor allem auf die Digitalpolitik. In ihrer Bewerbungsrede im EU- Parlament hatte sich Ursula von der Leyen insbesondere auf Klima-, Verkehrs- und Verteidigungspolitik fokussiert. Nach den ambitionierten Plänen der vergangenen Legislaturperiode ist damit noch relativ unklar, was in puncto EU- Digitalpolitik in den nächsten fünf Jahren auf uns zukommt.

Der Blick durch das europäische Schlüsselloch

Ungewöhnlich ist das nicht: Bis zum Ende des Jahres werden sich die EU-Institutionen neu sortieren, um dann ab Anfang 2025 wieder in den normalen Arbeitsrhythmus zu wechseln. Der ideale Zeitpunkt also, um die vergangenen fünf Jahre Revue passieren zu lassen und einen Blick durch das Schlüsselloch auf die nächste Legislaturperiode zu werfen.
In der zurückliegenden Amtszeit hatte die EU-Kommission die Digitalpolitik ganz oben auf die Agenda gesetzt. So ist es nicht verwunderlich, dass die Europäische Union genau in diesem Bereich in den vergangenen fünf Jahren sehr aktiv war. Allein schon, wenn man die Regelungen in Zahlen betrachtet: In der vergangenen Legislatur gab es eine Verdopplung der Gesetze im Digitalbereich. Umgekehrt formuliert, bedeutet dies aber auch, dass digitale Geschäftsmodelle mit einer Welle an Gesetzgebung konfrontiert sind, die so noch nie da gewesen ist.

Zahlreiche weitreichende Digitalgesetze

Deklinieren wir das an einigen Beispielen durch: Der Digital Services Act sieht für Online- Plattformen mehr Transparenz und Sorgfaltspflichten vor. Der Digital Markets Act zielt mit seinen Bestimmungen darauf ab, die Marktmacht der großen Tech-Unternehmen zu brechen. Der Data Act wiederum verpflichtet Unternehmen, mehr Daten zu teilen. Schließlich gibt der AI Act einen ersten gemeinsamen europäischen Rechtsrahmen für KI-Systeme vor. Und damit sind nur einige Beispiele der teilweise sehr weitreichenden neuen EU-Gesetze genannt.
Es ist durchaus so, dass einige der betreffenden Gesetze die richtige Zielsetzung haben. Jedoch muss man auch festhalten, dass bei der Quantität der oft parallel laufenden Gesetzgebungsverfahren die Qualität manches Mal zu kurz gekommen ist. Konkret moniere ich: Viele Gesetze sind eher risikoorientiert und zu wenig chancengetrieben. Sie greifen nicht ineinander und Synergien werden nicht ausreichend gehoben. Leider wird häufig nicht dort angesetzt, wo das jeweilige Problem liegt, sondern Unternehmen werden – gewissermaßen nach dem Gießkannenprinzip – mit Transparenz- und Berichtspflichten überschüttet.

Immer mehr Bürokratie?

Auf diese Weise entstehen durch Compliance-Anforderungen bürokratische Hürden, mit denen wir uns in der Europäischen Union selbst ein Bein stellen. Der Weg zu erfolgreichen digitalen Geschäftsmodellen wird damit komplizierter: So hat die EU-Kommission in einer Studie ermitteln lassen, wie sich die Einhaltung der Vorschriften des AI Acts für mittelständische Unternehmen auswirkt. Eine Firma, die KI-Anwendungen entwickelt und 50 Mitarbeiter beschäftigt, müsste demnach bis zu 300.000 Euro Kosten einkalkulieren. So nimmt sich die EU jede Chance, wettbewerbsfähig zu sein.
Dementsprechend gilt es, in der nun beginnenden Legislaturperiode den Fokus auf eine kohärente Umsetzung des bestehenden Rechtsrahmens zu legen – und nicht immer weitere neue Initiativen zu starten. Die verabschiedeten Digitalgesetze lassen viel Interpretationsspielraum zu und verschieben entscheidende Fragen in nachgelagerte Rechtsakte. Wiederum das Beispiel AI Act: Dieser soll durch 20 Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte sowie sechs Guidelines konkretisiert werden. Selbst die Frage, was ein KI-System im Sinne des AI Acts ist, bedarf noch weiterer Klärung.
Die nachgelagerten Rechtsakte muss die EU-Kommission praxisnah und bürokratiearm gestalten. Das Gleiche gilt für die oft noch zu beschließende Aufsicht. Unternehmen müssen bei der Erarbeitung der nachgelagerten Rechtsakte frühzeitig einbezogen werden. Vor allem aber braucht es pragmatische Regeln für kleine und mittlere Unternehmen, für die der Compliance-Aufwand zu einer unüberwindbaren Hürde zu werden droht. Nur so kann gewährleistet werden, dass der digitale Binnenmarkt zum Vorteil aller Akteure funktioniert und Europa im globalen Wettbewerb nicht zurückfällt. Insofern ist es in der Tat beruhigend, wenn die wiedergewählte Kommissionspräsidentin mögliche weitere digitalpolitische Initiativen nicht in den Mittelpunkt ihrer neuen Amtsführung stellt.

Zum Autor

Prof. Dr. Robert Mayr

Diplom-Kaufmann, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater
CEO der DATEV eG; Die Genossenschaft gehört zu den größten Softwarehäusern und IT-Dienstleistern in Deutschland.
Seine Themen: #DigitaleTransformation, #DigitalLeadership, #Plattformökonomie und #BusinessDevelopment.
Seine These: „Die digitale Transformation ist keine Frage des Könnens, sondern des Wollens“

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