EU-Recht - 25. September 2024

EuG zur Stromübertragung

EuG, Pressemitteilung vom 25.09.2024 zum Urteil T-483/21 vom 25.09.2024

Stromübertragung: Das Gericht nimmt Klarstellungen zum Anwendungsbereich der obligatorischen regionalen Koordination bei der Betriebssicherheit der Stromübertragungsnetze vor.

Die auf diesem Gebiet ergangene Entscheidung der ACER greift nicht in die Zuständigkeiten der Netzbetreiber ein.

Um das reibungslose Funktionieren des Elektrizitätsbinnenmarkts und insbesondere die Betriebssicherheit der regionalen Stromübertragungsnetze zu gewährleisten, hat der europäische Gesetzgeber einen rechtlichen Rahmen geschaffen1. Eine der Maßnahmen zur Sicherheitskoordination besteht in der Ausarbeitung einer ROSC-Methode 2. Anhand dieser wird u. a. ermittelt, welche Risiken mit dem Betrieb der Netze verbunden sind, und das Verfahren zur Koordination, Validierung und Durchführung der Entlastungsmaßnahmen mit grenzübergreifenden Auswirkungen geregelt, die ergriffen werden, um die Sicherheit der Netze zu gewährleisten.

Der Vorschlag für die ROSC-Methode wird von all jenen Stellen (im Folgenden: ÜNB 3), die für den Betrieb, die Wartung und die Entwicklung des Stromnetzes der jeweiligen Region4 zuständig sind, gemeinsam unterbreitet. Außerdem ist eine Genehmigung seitens der nationalen Regulierungsbehörden (im Folgenden: NRB) erforderlich. Können diese innerhalb der dafür gesetzten Frist keine Einigung erzielen, befindet die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (im Folgenden: ACER) über einen solchen Vorschlag. Gleiches gilt, wenn die NRB dies gemeinsam beantragen.

Nach längeren Konsultationen und Diskussionen erließ die ACER am 4. Dezember 2020, da die betreffenden ÜNB und NRB keine Einigung erzielt hatten, eine Entscheidung, die die ROSC-Methode für die Core-Region enthielt. Zu dieser Region gehören Belgien, die Tschechische Republik, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Luxemburg, Ungarn, die Niederlande, Österreich, Polen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei. Die Polskie sieci elektroenergetyczne S.A. – die NRB, die in Polen für das Stromnetz verantwortlich ist – hat die Aufhebung dieser Entscheidung beantragt.

Nachdem sie mit ihrem Antrag beim Beschwerdeausschuss der ACER keinen Erfolg hatte, rief diese NRB das Gericht der Europäischen Union an. Die Entscheidung der ACER, in die ROSC-Methode sämtliche Entlastungsmaßnahmen einzubeziehen, die zumindest bisweilen in der Lage seien, einen Engpass auf allen Netzelementen, mit Ausnahme der davon ausgenommenen, mit einer Spannungsebene von 220 Kilovolt (kV) oder mehr zu mindern, greife zu weit. Bei einem solchen Anwendungsbereich sei die Klägerin daran gehindert, selbstständig auf dem Gebiet der Betriebssicherheit ihre Befugnis wahrzunehmen, weil diese Entlastungsmaßnahmen von regionalen Koordinierungszentren abgestimmt würden.

Das Gericht weist diese Klage vollumfänglich ab.

Im Anbetracht der eigenen Entscheidungsbefugnisse der ACER, wie sie im Unionsrecht vorgesehen sind, war die ACER nach Auffassung des Gerichts dafür zuständig, den ihr unterbreiteten Vorschlag der ÜNB abzuändern. Sonst könnte die ACER ihre durch Verordnung geregelten Aufgaben nicht wirksam wahrnehmen.

Dem Gericht zufolge wird mit der beanstandeten Methode auch der geltende rechtliche Rahmen gewahrt. In der Core-Region, die über einen stark vermaschten Stromverbundnetz verfügt, konnte die ACER davon ausgehen, dass sämtliche Entlastungsmaßnahmen auf Netzelementen mit einer Spannungsebene von 220 kV oder mehr grenzüberschreitende Auswirkung im Sinne der regionalen Koordination haben.

Des Weiteren nimmt die beanstandete Methode den ÜNB nicht deren Befähigung, die Stromflüsse zu verwalten und auf ihren Netzen die Betriebssicherheit sicherzustellen5, da es die Methode den ÜNB ermöglicht, die Sicherheit ihrer Netze selbstständig zu gewährleisten.

Schließlich werden die ÜNB durch die beanstandete Methode weder daran gehindert, das zentralisierte Gebotsmodell anzuwenden, noch daran, sicherzustellen, dass Spannungsgrenzen beachtet werden. Was indessen ihre Investitionen in Phasenschieber-Transformatoren anbelangt, so erinnert das Gericht daran, dass der Grundsatz der Energiesolidarität6, selbst wenn die regionale Koordination gewisse Kosten nach sich ziehen kann, nicht bedeutet, dass sich die Politik der Union im Energiebereich keinesfalls negativ auf die besonderen Interessen eines Mitgliedstaats in diesem Bereich auswirken dürfe.

Fußnoten

1 So etwa die Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 über den Elektrizitätsbinnenmarkt und die Verordnung (EU) 2017/1485 der Kommission vom 2. August 2017 zur Festlegung einer Leitlinie für den Übertragungsnetzbetrieb.
2 Gemeinsame Methode zur regionalen Koordination der Betriebssicherheit.
3 Stromübertragungsnetzbetreiber.
4 Unter Kapazitätsberechnungsregion versteht man dabei innerhalb des Elektrizitätsbinnenmarkts der Europäischen Union dasjenige geografische Gebiet, in dem eine koordinierte Berechnung der Kapazität vorgenommen wird.
5 Nach Art. 35 der Verordnung 2019/943 und Art. 40 der Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt.
6 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juli 2021, Deutschland/Polen, C-848/19 P, ausgeführt hat (vgl. auch die Pressemitteilung Nr. 129/21).

Quelle: Europäischer Gerichtshof