Finanzgerichtsordnung - 17. Juni 2024

Taggenaue Betrachtung für Zwecke des § 62 Abs. 1a Satz 1 und 3 EStG erforderlich

FG Münster, Mitteilung vom 17.06.2024 zum Urteil 8 K 2918/22 Kg vom 22.05.2024

Der „Ablauf des in Satz 1 genannten Zeitraums“ im Sinne des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ist taggenau zu ermitteln, sodass eine Kindergeldberechtigung für alle vier Monate, die in den dreimonatigen Zeitraum des Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (sog. FreizügigkeitsRL) fallen, besteht. Dies hat der 8. Senat des Finanzgerichts Münster mit Urteil vom 22. Mai 2024 (Az. 8 K 2918/22 Kg) entschieden.

Die Klägerin und ihre Tochter sind bulgarische Staatsangehörige, die am 20. Januar 2022 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist waren. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU erfüllte die Klägerin unstreitig nicht.

Die Familienkasse setzte gegenüber der Klägerin Kindergeld für die Monate Januar bis März 2022 fest, lehnte jedoch eine Kindergeldfestsetzung für den Monat April 2022 ab. Aus der Weisung des Bundeszentralamts für Steuern vom 28. September 2022 zum Ausschluss der Kindergeldzahlungen nach § 62 Abs. 1a EStG nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 1. August 2022 (Rs. C-411/20) folge, dass ein Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG (nur) in den ersten drei Kalendermonaten nach Begründung des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts im Inland bestehe. Die Weisung impliziere eine kalendermonatsbezogene Betrachtung; eine taggezogene Betrachtung des Zeitraums sei nicht möglich.

Der 8. Senat hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben. Nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat (vorbehaltlich der Regelungen des § 62 Abs. 1a Satz 2 EStG) ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union oder eines Staats, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründet, für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld. Nach Ablauf des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG genannten Zeitraums richtet sich der Kindergeldanspruch nach den – im Streitfall nicht erfüllten – weiteren Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 3 EStG.

Mit Urteil vom 1. August 2022 (Rs. C-411/20) hat der EuGH entschieden, dass Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats – wie hier der Regelung des § 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 EStG – entgegensteht, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 – hier Kindergeld – in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden.

Nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der FreizügigkeitsRL hat ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen hat, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats – dazu zählt nicht das Kindergeld – nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Die Umsetzung in nationales Recht befindet sich in § 2 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU in der bis zum 24. April 2023 gültigen Fassung bzw. in § 2a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU in der ab dem 25. April 2023 gültigen Fassung.

Nach Auffassung des 8. Senats seien daher die am 20. Januar 2022 eingereiste Klägerin und deren Tochter in den ersten drei Monaten nach ihrer Einreise zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt gewesen. Dabei sei der Zeitraum „von bis zu drei Monaten“ taggenau zu ermitteln und dauere bis zum Ablauf des 20. April 2022 an. Für die Auslegung, dass der Zeitraum „von bis zu drei Monaten“ den Kalendermonat der Einreise und die folgenden beiden Kalendermonate umfasse, bestehe weder ein rechtlicher Anhaltspunkt noch eine tatsächliche Notwendigkeit. Auch würde es anderenfalls einen nicht unwesentlichen Unterschied machen, ob ein Unionsbürger zu Beginn oder zum Ende eines Kalendermonats einreise.

Vor diesem Hintergrund sei auch der „Ablauf des in Satz 1 genannten Zeitraums“ im Sinne des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG taggenau zu ermitteln. Hierfür spreche auch der Wortlaut des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG. Bei der von der Beklagten vertretenen Auffassung würde der Kinderanspruch für den Monat April 2022 von den weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU abhängig gemacht, obwohl im Monat April mindestens an einem Tag ein rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland gegeben sei. Aus § 66 Abs. 2 EStG ergebe sich, dass Kindergeld für jeden Monat zu gewähren sei, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wenigstens an einem Tag erfüllt seien.

Der 8. Senat hat die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen.

Quelle: Finanzgericht Münster, Newsletter Juni 2024