Abgabenordnung - 20. August 2024

Vollverzinsung und Unionsrecht

FG Baden-Württemberg, Mitteilung vom 20.08.2024 zum Urteil 12 K 1476/23 vom 08.02.2024 (nrkr - BFH-Az.: V B 10/24)

Die Vollverzinsungsregeln der § 233a und § 238 Abs. 1a Abgabenordnung (AO) bilden in Bezug auf den Beginn des Zinslaufs und die Zinshöhe die Lage an den Zinsmärkten (jedenfalls noch) realitätsgerecht ab. Die Vollverzinsung verstößt auch nicht gegen die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität.

Sachverhalt

Die Klägerin reichte am 04.03.2020 eine Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2019 ein. Das beklagte Finanzamt stimmte am 09.08.2022 der Umsatzsteuererklärung zu und setzte antragsgemäß einen Umsatzsteuer-Erstattungsanspruch von 2.100,13 Euro fest. Die Zinsfestsetzung erfolgte zunächst mit 0 Euro. Mit Änderungsbescheid vom 13.12.2022 wurde die Zinsfestsetzung nachgeholt und für den Zeitraum vom 01.10.2021 bis zum 12.08.2022 (= 300 Zinstage zu 1,8 % pro Jahr) Erstattungszinsen nach § 233a AO i. H. v. 32 Euro festgesetzt. Gegen die Zinsfestsetzung hat die Klägerin nach erfolglosem Einspruch Klage erhoben. Sie ist der Ansicht, dass ihr aus europarechtlichen Gründen eine höhere Zinserstattung zustehe. Das Unionsrecht sei dahin auszulegen, dass sie der Praxis eines Mitgliedstaates entgegenstünden, Zinsen nach einem Zinssatz zu berechnen, der niedriger sei als der, den ein Steuerpflichtiger zahlen müsste, um ein Darlehen dieses Betrages aufzunehmen. Es sei daher bei der Bemessung des Zinssatzes für von der deutschen Finanzbehörde zu leistende Erstattungszinsen vom Zinssatz auszugehen, den der Steuerpflichtige für die Aufnahme eines ungesicherten Konsumentenkredites hätte aufwenden müssen. Dieser Auffassung folgte das Finanzgericht nicht. Es wies die Klage ab.

Die Zinsfestsetzung zur Umsatzsteuer 2019 ist im Wesentlichen aus den folgenden Gründen rechtmäßig:

Beginn des Zinslaufs und Zinshöhe

Der Zinslauf beginnt für den Besteuerungszeitraum 2019 nach § 233a Abs. 2 Satz 1 AO für Erstattungen des Steuerpflichtigen als auch für die von ihm zu entrichtenden Steuernachzahlungen am 01.10.2021. Die Verlängerung von 15 Monaten um sechs Monate auf 21 Monate hat der Gesetzgeber mit der um sechs Monate verlängerten Erklärungsfrist auf Grund der Auswirkungen der Corona-Pandemie als besonderer singulärer Sondersituation begründet. Gemäß § 238 Abs. 1a AO betragen die Zinsen ab dem 01.01.2019 für jeden Monat 0,15 %, d. h. 1,8 % für jedes Jahr. Danach hat das Finanzamt die Zinsen zur Umsatzsteuer 2019 durch Bescheid vom 13.12.2022 zutreffend in Höhe von 32 Euro festgesetzt.

Kein Verstoß gegen die Vorgaben des Unionsrechts

Die Klägerin beruft sich auf Art. 22, Art. 19, Art. 26 und Art. 27 der EU-Richtlinie 2008/9 EG vom 12.02.2008.

Die EU-Richtlinie 2008/9 EG regelt allein die Verzinsung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, wenn der Steuerpflichtige im EU-Ausland lebt.

Für die im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Klägerin ist jedoch der Anwendungsbereich der EU-Richtlinie 2008/9 EG vom 12.02.2008 nicht eröffnet. Nach Art. 1 ist die Richtlinie nur auf nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige, die zusätzlich noch die Voraussetzungen des Art. 3 erfüllen müssen, anzuwenden.

Kein von den nationalen Zinsvorschriften abweichenden Zinslauf und keine abweichende Zinshöhe wegen Art. 183 MwStSystRL

Entgegen den Ausführungen der Klägerin lässt sich weder ein höherer Zinssatz noch ein früherer Beginn des Zinslaufes aus Art. 183 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) in Verbindung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH-Urteil vom 23.04.2020 Rs. C-13/18 und C-126/18 Sole-Mizo und Dalmandi Mezögazdasagi), ableiten.

Kein Verstoß gegen die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität

§§ 233a und 238 AO entsprechen den unionsrechtlichen Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität. Die Normen sind nicht ungünstiger als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind. Sie machen auch nicht die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich.

Vollverzinsung mit einheitlichem Steuersatz sowohl für die Verzinsung von Steuernachforderungen als auch für Steuererstattungen

§ 233a AO liegt das Prinzip der Vollverzinsung zu Grunde. Steuernachforderungen und Steuererstattungen werden, was den Beginn des Zinslaufs sowie die Zinshöhe nach § 238 AO anbelangt, gleichbehandelt; der Zinssatz wird pauschal bemessen. Dies ist unionsrechtlich nicht zu beanstanden. Grenzüberschreitende Sachverhalte werden nicht ungünstiger behandelt als solche, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind.

Vollverzinsung ist mit dem Grundgesetz und Europarecht vereinbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 das Prinzip der Vollverzinsung mit einem starren, gleichen Zinssatz für Erstattungs- und Nachzahlungszinsen als verfassungsgemäß erachtet. Sachgerecht sei auch, den Beginn des Zinslaufs nach § 233a Abs. 2 AO an den Ablauf einer Karenzzeit zu knüpfen. Allerdings sei ein Zinssatz von monatlich 0,5 % (= 6 % pro Jahr) für in das Jahr 2014 fallende Veranlagungszeiträume nicht mehr erforderlich, die Grenzen zulässiger Typisierung würden überschritten.

Nach Würdigung dieser Maßstäbe erachtet der erkennende Senat die Bemessung des Zinssatzes im Jahr 2019 für die Umsatzsteuerfestsetzung und Umsatzsteuererstattung der Klägerin mit 1,8 % pro Jahr als verfassungsgemäß und mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Äquivalenz und Effektivität vereinbar. Die Zinshöhe ist nach Ansicht des erkennenden Senats nicht geeignet, die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich zu machen.

Quelle: Finanzgericht Baden-Württemberg, Newsletter 1/2024