Ermittlungspflicht des Prüfers - 25. Juli 2024

Die Zweifel beheben

Im Rahmen einer Betriebsprüfung kommt es häufig zu einer Ausbeutekalkulation, obgleich für die Finanzbehörde ein Untersuchungsgrundsatz besteht, bei dem alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für den betroffenen Unternehmer günstigen Umstände zu berücksichtigen sind.

Dogmatisch gesehen, muss ein Prüfer den Sachverhalt nach § 88 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) zugunsten wie zulasten der oder des Steuerpflichtigen prüfen. Hat er die sogenannte Ausbeutekalkulation vorgenommen und gibt es hinsichtlich der Waren beziehungsweise der Mengen keine Unklarheiten, hat er den Sachverhalt vollständig ermittelt. Raum für ernsthafte Zweifel dürfte es dann nicht mehr geben. Mancher Prüfer tendiert dann womöglich dazu, bei einer Ausbeutekalkulation den üblichen Verschnitt, Schwund, Bruch oder Verderb außen vor zu lassen oder nur Mindestmengen anzusetzen, die nicht realistisch sind, sodass sich bei dieser Kalkulation dann erhebliche Differenzen zwischen den erklärten und den rein theoretisch erzielbaren Umsätzen ergeben. Die Ausbeutekalkulation kann damit als Kalkulationsmethode auch eine formell ordnungsgemäße Buchführung infrage stellen, weil nach Auffassung des Prüfers ein formell korrekt erklärtes Ergebnis so nicht sein kann.

Abläufe im Gastgewerbe

Werfen wir einen Blick in die Gastronomie. Eine Ausbeutekalkulation besagt hier lediglich, dass es bei einem sorgsamen Umgang mit dem Warenbestand möglich gewesen wäre, mehr Speisen oder Getränke zu verkaufen. Ein Liter Cola ergibt theoretisch im Ausschank vier Gläser à 0,25 Liter. Wenn man bedenkt, dass pro Glas ein Überausschank vorliegen kann, ein paar Tropfen beim Ausschenken verschüttet werden oder die Cola vielleicht auch für Mixgetränke verwendet wird beziehungsweise die Servicekraft den letzten Rest der Flasche selbst trinkt, sieht die Rechnung ganz anders aus. Schon ergibt ein Liter Cola nicht vier Gläser mal Verkaufspreis, sondern nur drei. Bei einigen 100 Litern pro Tag kann das zu einer erheblichen Abweichung führen. Bei anderen Produkten verhält es sich ähnlich. Wie genau wird ein Schnitzel geschnitten? Welche Fleischmenge wird vom Nettokaltgewicht ausgehend dann tatsächlich auf dem Teller serviert? Wie groß hat eine Portion Pommes frites zu sein? Und wie viel Gemüse gehört als Beilage auf den Teller? Die genannten Produkte werden im Regelfall nicht gewogen, sondern frei Hand portioniert. Bei der Umrechnung von Wareneinkauf auf Wareneinsatz führt dies je nach Portionierung beziehungsweise Ausschank logischerweise zu einem Schwund, der deutlich höher ist als die vom Prüfer typischerweise tolerierten 3 Prozent; mit der Folge, dass sich über eine Nachkalkulation immer eine Differenz zwischen theoretisch möglicher und tatsächlicher Ausbeute ergibt.

Bedenkliche Wechselwirkungen

Mancher Unternehmer stellt sich die Frage, wie er pragmatisch und kostengünstig weiteren Ärger und gegebenenfalls ein tieferes Einsteigen in eine Nachkalkulation vermeiden kann. Daher wird er vielleicht um seiner Ruhe willen dazu neigen, den Zuschlag zu akzeptieren, wenn er ihn für finanziell erträglich hält. Aus Sicht des Steuerpflichtigen ist der Zuschlag dann aber eher ein Ablass. Der Prüfer interpretiert die Nachgiebigkeit des Unternehmers womöglich falsch und glaubt, er habe recht gehabt mit seinen Zweifeln. Und vielleicht ist es auch nur die Unwissenheit des Steuerpflichtigen, wie er sich gegen einen unberechtigten Zuschlag wehren kann, oder sein Gefühl, dass einfach nachzugeben wirtschaftlich sinnvoller ist, als lange zu streiten und erhebliche Kosten für eine Rechtsverteidigung mit ungewissem Ausgang des Verfahrens aufzuwenden. Die Angst, am Ende den Zuschlag nahezu unverändert zahlen zu
müssen und weitere Kosten zu haben, darf bei der Zustimmung beziehungsweise Akzeptanz eines Zuschlags nicht unterschätzt werden. Auf der anderen Seite denkt der Prüfer aufgrund des nachgiebigen Verhaltens des Steuerpflichtigen womöglich, dass er damit immer durchkommt, und reagiert dann beim nächsten Fall allergisch, wenn sich der betroffene Unternehmer wehrt. Prüfer reagieren entsprechend ihren Erlebnissen und Erfahrungen. Folglich formen die Steuerpflichtigen ihre Prüfer selbst, indem sie sich gegen kleine unberechtigte Zuschläge wehren oder eben nicht. Im Ergebnis können kleine Zuschläge so zur Gewohnheit und zum steuerlichen Ablass werden, wenn sie erträglich sind und eine zeitnahe, einvernehmliche Beendigung der Betriebsprüfung ermöglichen.

Zuschlagsbefugnis lässt sich nicht schätzen

Letztendlich stellt sich immer die Frage, ob das Verlangen des Prüfers nach einem Zuschlag berechtigt ist. Vor allem bei nicht nachvollziehbaren Bedenken des Prüfers oder dem eigenen Empfinden nach unberechtigten Vorwürfen sollte man sich gegen Sicherheitszuschläge wehren. Denn sofern keine Gründe ersichtlich sind, die Buchführung zu verwerfen, sind die Aufzeichnungen und die Berufung der Steuerpflichtigen gemäß § 158 AO zwingend der Besteuerung zugrunde zu legen. Damit handelt es sich nicht um ein Ermessen des Prüfers, sondern um zwingend anzuwendendes Recht. Für die Behauptung, es sei nicht alles versteuert, bedarf es klarer Nachweise. Eine Zuschlagsbefugnis lässt sich nicht schätzen. Die Berechtigung, die Buchführung zu verwerfen und eine Schätzung vorzunehmen, muss durch den Prüfer nachgewiesen werden. Insoweit hat die Finanzverwaltung eine Darlegungs- und Beweislast (Feststellungslast) dafür, dass es weitere Erlöse gegeben haben muss, die der Unternehmer vereinnahmt und nicht versteuert hat.

Nachvollziehbare Abweichungen

Bei einer Ausbeutekalkulation fehlt jeglicher logische und tragfähige Schluss, dass Einnahmen entsprechend der Kalkulation dem Unternehmer tatsächlich zugeflossen sind. Je nach Stimmungslage, Lust oder Laune beziehungsweise Liebe zum Detail sind die Portionen oder Mixturen mal größer, mal kleiner und weitab von dem, was ein Prüfer im Nachgang kalkuliert. Daher ist es müßig zu behaupten, die Portionen hätten kleiner oder genauer kalkuliert werden müssen, um so mehr Produkte für den Verkauf zu produzieren. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Speisen vor der Positionierung natürlich nicht gewogen werden und Koch oder Küchenhilfe nach Gefühl portionieren. Und wie viele Speisen nicht gelingen oder vielleicht im Abfall landen, erfährt der Gastwirt in der Regel auch nicht. Denn weder Koch noch Küchenhilfe gestehen nach der Schicht, was alles misslungen ist, was alles weggeworfen wurde. Darüber hinaus gibt es natürlich auch besonders gut gemeinte, große Portionen, etwa für Freunde, Bekannte oder prominente Gäste. Und schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass Nachschläge oder Kulanzausgaben gemacht werden. Genauso verhält es sich beim Getränkepersonal. Wie voll wird ausgeschenkt? Wie viele ungelernte Aushilfen haben im Thekenbereich gearbeitet? Wie werden die Cocktails gemixt? Wie genau wird ein Schuss Alkohol in der Cola gemessen? Frei nach Augenmaß oder mittels Messbecher? Und schließlich kommt es in jedem Betrieb immer wieder ganz einfach zu menschlichen Fehlern. Eine Flasche Wein, ein Bier oder andere Getränke, aber auch Speisen werden ausgeliefert, aber nicht gleich boniert. Die Servicekraft will dies zwar nachholen, vergisst es aber aus nachvollziehbaren Gründen, womöglich stressbedingt. Unter Umständen fällt es ihr beim Abrechnen des Kunden wieder ein und sie rechnet die Produkte, die sie nicht boniert hat, nun mit ab. Oder die Servicekraft boniert das eingenommene Entgelt später nach und führt diese Umsätze so noch an den Gastronomen ab. Es könnte aber auch sein, dass sie stressbedingt diese Warenausgabe endgültig vergisst. Dann hat der Gast zwar Glück gehabt, wenn er es nicht von sich aus anmerkt und um Korrektur bittet, aber dem Willen des Gastronomen entspricht es natürlich nicht, dass Ware ausgegeben wird, ohne diese zu bonieren. Entsprechendes gilt für den Verderb von Ware, Überausgaben durch falsche Portionierung und zwar bestellte, aber an den falschen Tisch gebrachte Ware, die dann reklamiert und anstandslos zurückgenommen wird, aber natürlich nicht weiterverkauft werden kann.

Kalkulation ohne Beweiskraft

Aus Sicht des Unternehmers handelt es sich dabei um Vorgänge, von denen er nichts weiß, sowie um Ware, die zwar ausgegeben wurde, für die er aber keine Erlöse erzielt hat. Zurechenbare Umsätze sind das für den Gastronomen jedenfalls nicht. Mit welcher Berechtigung kann daher ein Betriebsprüfer behaupten, dass mehr Ware ausgegeben wurde und Erlöse dafür erzielt wurden, die nun aber fehlen und nachzuversteuern sind? Und was besagt das Voranstehende über die Beweiskraft einer Ausbeutekalkulation? Sie kann allenfalls belegen, dass bei sorgsamer, genauer Verarbeitung der Waren sowie exakter Ausgabe der Produkte theoretisch hätte mehr Erlös daraus generiert werden können. Keinesfalls aber kann sie den Nachweis führen, dass tatsächlich entsprechend der kalkulierten Ideallinie ausgeschenkt oder Speisen ausgegeben wurden. Die im voranstehenden Absatz beschriebenen Abweichungen müssen berücksichtigt werden. Zu unterstellen, es hätte sie nicht gegeben, und so einem Gastwirt weitere Einnahmen fiktiv zuzurechnen, widerspricht dem Untersuchungsgrundsatz und der Ermittlungspflicht des Prüfers.

Fazit

Den Nachweis von weiteren Einnahmen kann eine Ausbeutekalkulation nicht führen. Denn sie besagt lediglich, dass rein theoretisch mehr Ausbeute hätte erfolgen können. Die Finanzverwaltung unterstellt aber – völlig ohne Rechtsgrund – tatsächlich eine derartige Ideallinie und dass die aufgrund dieser fiktiven Ideallinie erzielten Mehrergebnisse angeblich schwarz vereinnahmt worden sind. Ob das eingesetzte Personal tatsächlich so qualifiziert war, um entsprechend dieser Ideallinie zu arbeiten, beziehungsweise auch immer in der Lage war, sich an dieser Ideallinie zu orientieren, bleibt dabei völlig unberücksichtigt. Insoweit bietet sich ein Vergleich zum Fußball an. Diejenigen, die nur auf die Tabelle schauen und danach bestimmte Ergebnisse tippen, die zumindest im Vorfeld rechnerisch völlig klar sind, werden bei den Wettagenturen trotzdem nicht reich, weil sich eben nicht immer alles nur rein theoretisch berechnen lässt. Daher müssen selbst bei einer noch so gründlichen
Ausbeutekalkulation ernsthafte Zweifel bleiben, ob die tatsächlichen Abläufe eine so angenommene, ideale Ausbeute auch nur annähernd rechtfertigen oder ob eine derartige Kalkulation entlang der Ideallinie einfach unrealistisch ist und menschliche Fehler unberücksichtigt lässt. Und wie bereits ausgeführt, trägt nicht der Steuerpflichtige, sondern die Finanzverwaltung die Beweislast, dass das eingesetzte Personal entsprechend der vom Prüfer erdachten Ideallinie gearbeitet hat und sorgfältig und sparsam mit der Ware des Unternehmers umgegangen ist.

Zum Autor

JB
Dr. Jörg Burkhard

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachanwalt für Strafrecht, Wiesbaden

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